Kampf um den «blauen Schatz» Albaniens

In der NZZ vom 13.07.2019 berichtete Andreas Reich über den längsten noch erhaltenen Wildfluss Europas, die Vjosa. Sie steht mit im Fokus des von der WGL mitorganisierten Flussfilmfestivals Werdenberg/Liechtenstein vom 24. bis 26.09.2020.

ANDREAS REICH, KUTA

Noch fliesst die Vjosa wie eh und je. Mehrere hundert Meter breit ist ihr Bett hier in der Nähe des kleinen Dorfs Kuta. Das Wasser glitzert in der Nachmittagssonne, ungehindert sucht es mäandrierend seinen Weg durch die mächtigen Kiesbänke. Kuta liegt etwa 25 Kilometer östlich der albanischen Küstenstadt Vlora auf einer Anhöhe am Rand des breiten Tals.

In der Kneipe am Dorfplatz sitzen drei Männer beim Bier. «Die Vjosa ist der grösste Schatz, den wir haben», sagt einer von ihnen, der sich als Franco Malaj vorstellt. «Ohne sie wären wir nicht hier.» Die Menschen im Dorf betreiben Landwirtschaft. Andere Arbeit gebe es hier nicht, sagt Luan Myrtaj, der ebenfalls am Tisch sitzt. Die Dorfbewohner leben von dem, was die fruchtbaren Böden am Ufer der Vjosa hergeben. Hier weiden ihre Schafe. Hier bauen sie Mais, Tomaten oder Bohnen an. Hier leben sie seit je. Doch wie lange sie noch bleiben können, ist ungewiss. Denn der Schatz von Kuta ist in Gefahr. Wenige Kilometer flussabwärts, bei Pocem, will  ein türkisches Unternehmen einen grossen Damm errichten. Der Stausee, der entstünde, würde die Felder überfluten. Wie es dann weitergehen soll, wissen die Männer auf dem Dorfplatz nicht. «Wenn sie uns unser Land nehmen, nehmen sie uns unser Leben», sagt Malaj.

Einzigartige Artenvielfalt

Noch wird der Staudamm nicht gebaut. Mit der Unterstützung von Naturschützern haben die Bewohner von Kuta Klage gegen das Staudammprojekt eingereicht. Mit Erfolg: Das Verwaltungsgericht in Tirana hat die Umweltverträglichkeitsprüfung sowie den Einbezug der lokalen Bevölkerung in das Projekt als mangelhaft eingestuft und den Bau vorläufig gestoppt. Es ist ein Erfolg auf Zeit: Die Behörden haben Beschwerde eingelegt. Der Fall wird an die nächste Gerichtsinstanz weitergezogen. Das Kraftwerk von Pocem ist nicht das einzige, das an der Vjosa entstehen soll. Auch bei Kalivac, einige Kilometer flussaufwärts, ist ein grosser Staudamm geplant. Würde er gebaut, drohten die Felder von Kuta auszutrocknen.

Die Vjosa hat nicht nur für die Menschen, die an ihrem Ufer leben, einen grossen Wert. Naturschützer und Wissenschafter sehen sie als ein Flussökosystem von europäischer Bedeutung. Sie ist der längste Wildfluss des Kontinents ausserhalb Russlands. Nur einmal, kurz nach der Quelle im griechischen Teil des Pindosgebirges, wird er gestaut. Danach sucht sich die Vjosa auf einer Länge von 260 Kilometern ungezähmt ihren Weg in die Adria. Auch viele ihrer Zuflüsse sind noch unverbaut. Hier leben Tierarten, die im restlichen Europa rar geworden sind, etwa der vom Aussterben bedrohte Europäische Aal. Über die Artenvielfalt an der Vjosa ist noch wenig bekannt. Als vor zwei Jahren 25 Wissenschafter während einer Woche das Gebiet um das geplante Wasserkraftwerk bei Pocem untersuchten, fanden sie allein dort 300 Tierarten. Darunter eine Fisch- und eine Steinfliegenart, die bis dahin unbekannt waren. 40 Arten konnten sie zudem erstmals in Albanien nachweisen. Vor allem für wandernde Fischarten ist die klare, kalte und schotterreiche Vjosa ein idealer Lebensraum. Der Fluss könnte auch als Vorbild für Renaturierungsprojekte an anderen Orten dienen. Da es im übrigen Europa kaum noch natürliche Flüsse gibt, fehlt es an Wissen, wie solche Flüsse «funktionieren».

Würden die geplanten Staudämme Realität, sei dieser Lebensraum verloren, sagt Olsi Nika, der Direktor der Naturschutzorganisation Eco Albania. «Wenn man einen Damm in diesen Fluss baut, tötet man ihn für immer.» Albanien setzt bei der Energieproduktion bereits heute ausschliesslich auf Wasserkraft. Etwas mehr als einen Drittel seines Wasserkraftpotenzials schöpft das Land derzeit aus. Bis ins Jahr 2030 soll dieser Anteil verdoppelt werden. Landesweit sind laut Angaben von Eco Albania Bewilligungen für mehr als 500 neue Wasserkraftwerke erteilt worden. Olsi Nika nennt das einen drohenden «Wasserkraft-Tsunami».

Der ständige Ausschuss der Berner Konvention, eines internationalen Abkommens zur Erhaltung von wildlebenden Pflanzen und Tieren, hat wegen der geplanten Kraftwerke an der Vjosa ein Verfahren gegen Albanien eröffnet und das Land aufgefordert, alle Projekte an diesem Fluss auszusetzen. Stattdessen solle untersucht werden, welche Auswirkungen die geplanten Kraftwerke hätten. Das albanische Energieministerium schreibt auf Anfrage, dass man die Kritik der Naturschützer an neuen Wasserkraftwerken anerkenne.

Man habe deshalb Anfang Jahr mit der Überprüfung bestehender und künftiger Wasserkraftkonzessionen begonnen. Dies habe zur Kündigung «einer beträchtlichen Anzahl von Verträgen» geführt. Man werde aber Albaniens Wasserkraftpotenzial auch in Zukunft nutzen, um die energetische Unabhängigkeit des Landes zu sichern. Sollten die grossen Kraftwerke an der Vjosa gebaut werden, bliebe offen, wie lange sie tatsächlich auch Energie liefern würden. Forscher der Wiener Universität für Bodenkultur sind in einer Untersuchung zum Schluss gekommen, dass das Geschiebe, das die Vjosa mitführt, den geplanten Stausee bei Pocem bereits nach 30 Jahren zu 80 Prozent mit Sedimenten aufgefüllt haben könnte.

Der Naturschützer Nika glaubt denn auch nicht, dass die Deckung des Energiebedarfs Albaniens der Grund für die vielen geplanten Wasserkraftwerke sei. Beim grössten Teil handle es sich um kleine Kraftwerke, die nur wenig zur Energiegewinnung beitrügen, aber grossen ökologischen Schaden verursachten. «Der Bau eines Wasserkraftwerks ist vor allem ein Investment», sagt Nika. Nicht nur die Energiebranche ziehe Gewinn daraus, auch die Baubranche profitiere. Und zuoberst stehe die Politik, die die Prozesse kontrolliere und versuche, Nutzen daraus zu ziehen – ein idealer Nährboden für die in Albanien weitverbreitete Korruption. Laut Transparency International werden für die Erteilung von Baubewilligungen oft Schmiergelder bezahlt.

«Der Grosse entscheidet»

Nika kritisiert zudem, dass Albanien ausschliesslich Strom aus Wasserkraft produziere. «Klar brauchen wir Energie. Die Energiequellen müssen aber diversifiziert werden», fordert er. Das Land habe bis heute nicht in andere erneuerbare Energien wie Sonnenenergie oder Windkraft investiert. Um die Vjosa vor Kraftwerken zu schützen, wollen Naturschützer den Fluss auf seiner ganzen Länge zum Nationalpark erklären. Die albanischen Behörden signalisieren aber zurzeit nur Bereitschaft, den Oberlauf des Flusses unter Schutz zu stellen. Der ökologisch besonders wertvolle Unterlauf mit dem breiten Flussbett und den grossen Kiesbänken, wie sie im restlichen Europa kaum noch zu finden sind, soll dagegen ungeschützt bleiben. Die Dämme von Pocem und Kalivac könnten dann gebaut werden.

Die Männer auf dem Dorfplatz von Kuta hoffen, dass es nicht so weit kommt. Die Behörden haben ihnen zwar eine Entschädigung für ihr Land versprochen, doch das würde ihnen nicht weiterhelfen, sagen sie. Die Politiker hätten keine Ahnung von ihrem Leben als Bauern und Selbstversorger. «Wir haben hier kein Einkommen», sagt Luan Myrtaj. Die versprochenen Entschädigungen seien viel zu gering, als dass sie sich anderswo ein Haus bauen oder eine Wohnung kaufen könnten. «Am Schluss entscheidet sowieso der Grosse in Tirana», sagt Myrtaj, und er meint damit den rund zwei Meter grossen Ministerpräsidenten Edi Rama. Dass der Entscheid zu Kutas Gunsten ausfallen wird, kann er sich nicht vorstellen. «Die sind alle korrupt», sagt er und verwirft die Hände. Die Männer hoffen auf internationalen Druck, und vor allem setzen sie auf die Europäische Union. «Nur Europas Stimme kann den Damm noch verhindern », sagt Franco Malaj. Doch auch wenn diese Stimme nichts bewirken sollte, ist für ihn klar: «Wir bleiben hier – bis zum Ende.»

Die wilden Flüsse des Balkans

ar. Die Vjosa ist zwar der grösste, aber bei weitem nicht der einzige wilde Fluss auf dem Balkan. Nirgendwo sonst auf dem Kontinent gibt es so viele unverbaute Flüsse und Flussabschnitte wie in Südosteuropa. Naturschützer bezeichnen die Region denn auch als das «blaue Herz Europas».

Die Umweltorganisationen Riverwatch und Euronatur haben zwischen Slowenien und Griechenland 80 000 Kilometer Fliessgewässer wissenschaftlich bewertet und bezeichnen rund drei Viertel davon als ökologisch hochwertig. Ganz im Gegensatz zur Europäischen Union. Dort befänden sich 60 Prozent der Flüsse aus ökologischer Perspektive in einem ungenügenden Zustand.

Die Umweltorganisationen fordern, dass in den ökologisch wertvollen Gebieten auf dem Balkan die Behörden keine neuen Wasserkraftwerke genehmigen. Zurzeit seien in der Region rund 3000 Kraftwerke geplant oder im Bau, mehr als 1000 davon in hochrangigen Schutzgebieten. Diese Pläne stünden im Widerspruch zur Biodiversitätsstrategie der Europäischen Union. Die Strategie gilt auch für EU-Beitritts-Kandidaten, muss also auch von Ländern des westlichen Balkans beherzigt werden.

Die Flüsse auf dem Balkan beherbergen eine einzigartige Artenvielfalt, die durch den Bau neuer Kraftwerke zu kollabieren droht. Viele gefährdete Arten finden hier einen intakten Lebensraum. Darunter sind zahlreiche Endemiten: Laut Riverwatch leben in diesen Gewässern 69 Fischarten, die nirgends sonst auf der Welt vorkommen. Zudem finden sich in der Region 40 Prozent aller Süsswassermuscheln und Süsswasserschnecken, die im übrigen Europa gefährdet sind. Eine Untersuchung der Universität Graz kommt zum Schluss, dass 11 endemische Arten aussterben würden und 38 weitere vom Aussterben bedroht wären, sollten die geplanten Kraftwerke tatsächlich gebaut werden. Nicht nur in Albanien, auch in vielen andern Ländern der Region kämpfen Bürgerbewegungen für die Erhaltung der wilden Flüsse. – Aus NZZ 13.07.2019, S. 5

Siehe auch: https://www.nzz.ch/international/der-kampf-um-die-vjosa-den-blauen-schatz-albaniens-ld.1492378#register

Das Flussfilmfestival Werdenberg/Liechtenstein vom 24. bis 26. September 2020 auf Schloss Werdenberg und im Skino Schaan wird organisiert von der Gesellschaft für Werdenberger Geschichte und Landeskunde WGL und der Werkstatt Faire Zukunft in Zusammenarbeit mit AquaViva, EuroNatur, der Plattform Lebendiger Alpenrhein (WWF, Pro Natura, Liechtensteinische Gesellschaft für Umweltschutz LGU, Naturschutzbund Vorarlberg) und CIPRA Liechtenstein. Siehe Rubrik «Agenda» auf dieser Website und www.flussfilm.org