«That’s the reason, why they emigrated»
Eine Grossfamilie aus Utah auf den Spuren ihrer Rebsteiner Vorfahren.
Von Werner Hagmann, Dr. phil. Historiker, Zürich
„Das ist der Grund, wieso sie ausgewandert sind“ – mit diesen Worten überreichte mir Michael Graff bei seinem Besuch im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich „Das Buch Mormon“ in deutscher Übersetzung. Das Schicksal seines Vorfahrens rückt eine Minderheit von Schweizer Auswanderern in den Fokus, welche ihre Heimat aus überwiegend religiösen Motiven den Rücken gekehrt haben.
Die ersten Mormonen-Missionare traten 1850 in der Schweiz in Erscheinung, wie dies der Festschrift zum 225jährigen Jubiläum der evangelischen Kirche Rebstein des ehemaligen Gemeindepfarrers Paul Zoller zu entnehmen ist. Zu den erfolgreich Konvertierten gehörten auch Michael Graffs Urgrosseltern Johannes Graf (1825-1883) und Anna Magdalena geb. Graf (1827-1869) aus Rebstein. Die Aufnahme in die Glaubensgemeinschaft der Mormonen soll 1863 bzw. 1864 erfolgt sein. Der folgenschwere Entscheid stiess bei der weltlichen und kirchlichen Obrigkeit auf Gegenliebe. Zunehmend in Bedrängnis geraten, entschloss sich die Familie Graf, wie sie sich damals offiziell noch schrieb, 1866 nach Utah in den USA auszuwandern. Mit dabei waren ihre fünf in der Schweiz geborenen Kinder Anna Katherina, Johann Heinrich, Johannes, Emma Barbara und Emil sowie Anna Graf (1824–1875), die ältere Schwester von Johannes. Der Sohn Theodor Harmon (1868–1947), der Großvater von Michael Graff, kam erst in Amerika auf die Welt. Neben religiösen mögen auch wirtschaftliche Motive mitgespielt haben, war die verbreitete Armut und Perspektivlosigkeit doch der Hauptantrieb für das «Amerika-Fieber» im 19. Jahrhundert.
Bewahrung vor drohender Seenot
Die lange Reise führte die Familie zunächst per Eisenbahn, streckenweise wohl auch per Flussschiff an den Ärmelkanal, wo sie nach England übersetzt wurde. In London bestiegen die Rebsteiner Auswanderer das Segelschiff „American Congress“. Die Überfahrt von London nach New York dauerte knapp anderthalb Monate vom 23. Mai bis zum 5. Juli 1866. Gemeinsame Passagierliste waren die Auswanderer aus Rebstein die einzigen deutschsprachigen Reisenden auf dem Schiff. Ungeachtet der sprachlichen Barrieren verband die Passagiere aber ihr gemeinsamer Glaube. Denn alle gehören zur Offenbarung der Glaubensgemeinschaft der Mormonen.
Als sich das Schiff der Küste Neufundlands näherte, entging die Auswanderergesellschaft nur mit knapper Not einer Katastrophe, indem bei schlechter Sicht ein Aufprall auf die heimtückischen Klippen im letzten Moment abgewendet werden konnte: Drei der Kirchenoberen sollen auf Deck gestanden sein und der Kapitän gerade noch rechtzeitig vor der drohenden Gefahr gewarnt haben. Dies wurde als Zeichen der göttlichen Vorsehung gedeutet. Nur wenige Jahre später wurde 1873 die selbe Gegend dem Dampfer «Atlantic» zum Verhängnis: Die Hälfte der Schiffspassagiere fand dabei den Tod, darunter 31 Auswanderer aus dem Bezirk Werdenberg.
Beschwerliche Weiterreise ins Landesinnere
Nach der gefährlichen Überquerung des Atlantiks erwarteten die Emigranten aus Rebstein neue Herausforderungen: Zunächst ging die Reise per Eisenbahn und Flussschiff weiter in Richtung Chicago und Quincy im Bundesstaat Illinois, wo sie den Mississippi überquerten. Anschließend führte sie die Bahn zunächst nach St.Joseph im Bundesstaat Missouri und weiter per Schiff flussaufwärts über den Missouri River nach Wyoming in Nebraska. Die nun folgende Reiseetappe war die wohl schwerste: Eine mit Ochsen bespannte Wagenkarawane beförderte die Mormonen weiter nach Utah, nur Kranke auf den Wagen mitfahrenn, während die Marschfähigen zu Fuß unterwegs waren. Elf Passagiere, darunter sieben Kinder, erlagen die Strapazen der siebzigtägigen Gewaltstour und starben bereits unterwegs.
Vorausgewanderter Cousin als Siedlerpionier
Schon 1859 war Johann Jakob Graf (1813–1880), ein ebenfalls zum Mormonentum übergetretener Cousin von Johannes, zusammen mit seiner Frau Anna Barbara geb. Graf (1831–1912) und ihre fünf in der Schweiz geborenen Kinder nach Utah ausgewandert, wo sie 1860 ankamen und vorübergehend in der Nähe von Salt Lake City lebten. Brigham Young, das Oberhaupt der Mormonen, entsandte sie jedoch bereits im Herbst 1861 – kurz nach dem Ausbruch des Sezessionskriegs – zusammen mit anderen Familien aus der Schweiz (insgesamt 85 Personen) nach Santa Clara, Washington County, im äußersten Südwesten des heutigen US-Bundesstaats Utah, ihr endgültiges Siedlungsziel. Ein monumentales Wandgemälde im Rathaus von Santa Clara erinnert an die entbehrungsreiche Reise der Schweizer Pioniere. Und noch heute werden im Andenken an die Schweizer Siedler jährlich im Herbst die «Swiss Days» gefeiert.
Neben den Grafen sollen auch die Familien Bonelli von Bussnang, Enz von Mettlen, Hirschi von Neuchâtel, Moosmann von Mühleberg, Roulet von Payerne, Staehelin von Amriswil, Tobler von Appenzell und Wittwer von Schangau zu den ersten Siedlern gehören. Schon kurze Zeit nach ihrer Ankunft wurden die Schweizer Siedler 1862 von einer Flutkatastrophe des Santa Clara River betroffen.
Während Anna Graf in Salt Lake City blieb und dort heiratete, zogen Johannes und Anna Magdalenda Graf mit ihren Kindern schon kurz nach der Ankunft weiter an ihr endgültiges Reiseziel nach Santa Clara, wo sie im Herbst 1866 eintrafen. Die meisten Siedler – so auch die Vorfahren von Michael Graff – waren in der Landwirtschaft tätig. Graffs Großvater Theodore Harmon Graf (1868-1947) besass dort eine Farm, die später Michaels Vater Clyde Graff (1902-1991) verkaufte. Danach betrieb der Großvater einen kleinen Laden für Treibstoff und Lebensmittel. Heute ist Santa Clara eine Gemeinde mit mehr als 7'500 Einwohnern.
Ahnenforschung als Wesenselement des Mormonentums
Alle Graf-Nachfahren in Utah lassen sich auf Hans Jakob Graf (1764–1832) und Barbara geb. Halter (1766–1822) zurückführen, die vom Bauerngut Elmat (urspr. Ebnet) oberhalb von Rebstein, nahe der Grenze zu Appenzell-Ausserrhoden, stammt. Aus diesem Grund ist denn auch von der «Graff-Elmat»-Linie die Rede. Da das seither in Rebstein beheimatete Geschlecht der Graf zahlreiche Familien umfasste, wurden diese in den Kirchenbüchern und Bürgerregistern mit familienspezifischen Beinamen unter dem Vermerk «Vulgo» (was so viel heisst wie «genannt») ergänzt. Demnach entstammt der Auswanderer Johannes Graf der Familie „Paulischneiders Ogelis [?]“ oder „Tambur“, jene seiner Ehefrau Anna Magdalena Graf hingegen jener der „Korden [?] Heinrichs“.
Ahnenforschung spielt im Leben von gläubigen Mormonen eine zentrale Rolle. Die ermittelten Vorfahren sollen mittels Stellvertretertaufe durch Mitglieder der Glaubensgemeinschaft nachträglich in die Glaubensgemeinschaft aufgenommen werden. Nicht zufällig verfügt die LDS-Church über die weltweit wohl umfassendste Sammlung genealogischer Daten, die über die Online-Datenbank Familysearch.org allen Interessierten – unabhängig von einer Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft – kostenlos offensteht und eine wertvolle Forschungshilfe bietet. Schon vor Jahrzehnten haben die Mormonen auch in der Schweiz damit begonnen, landesweit Kirchenbücher der einzelnen Kirchgemeinden (also insbesondere Tauf-, Ehe-, Sterbe- und Familienregister) auf Mikrofilm zu übertragen, einen der langlebigsten Datenträger. Für den Kanton St. Gallen sind diese Mikrofilme inzwischen digitalisiert und über die Website des Staatsarchivs St. Gallen ebenfalls online zugänglich, soweit diese nicht mehr der Schutzfrist von 100 Jahren unterstehen. Die Daten auf Originalmikrofilmen werden im in den 1960er Jahren errichteten riesigen Tresorraum Granite Mountain Records Vault in der Nähe von Salt Lake City gesichert und sozusagen bis zum «jüngsten Tag» aufbewahrt.
Ein Mormone – aber kein Polygamist
In der 1830 von Joseph Smith in den USA begründeten christlichen Glaubensgemeinschaft der Mormonen wurde in den ersten Jahrzehnten die Polygamie praktiziert, wenn auch nicht von allen Glaubensbrüdern. 1890 wurde diese Praxis auf Druck der US-Regierung de jure und in den beiden Jahrzehnten auch de facto aufgegeben.
Vor dem Hintergrund der Konversion zum Mormonentum stellt sich die Frage, ob auch der Rebsteiner Auswanderer Johannes Graf sich für die Vielweiberei entschieden hat. In den zur Verfügung stehenden Unterlagen gibt es jedoch keine Hinweise darauf. Seine erste Ehefrau Anna Magdalena Graf nur ein Jahr nach der Geburt des jüngsten Kindes früh verstorben war, heiratete Johannes Graf 1873 ein zweites Mal, und nachdem zwar die aus dem Zürcher Oberland stammende Anna Catherina Rüegg, mit der er drei weitere Kinder zeugte.
Weinbau trotz Entsagung gegenüber Genussmitteln
Mitglieder der Mormonenkirche verzichten auf den Genuss von Alkohol, Tabak, Kaffee und Schwarztee. Deshalb mag es erstaunen, dass in Santa Clara ursprünglich der Weinbau kultiviert wurde. Die Einwanderer aus Rebstein, einer ausgesprochenen Weinbaugemeinde, brachten die nötige Erfahrung mit. Von Brigham Young, dem Oberhaupt der Mormonen, wurden die Siedler in Santa Clara 1862 offiziell beauftragt, Wein für das gesamte Utah-Territorium (aus dem ersten 1896 der deutlich kleineren US-Bundesstaat Utah hervorging) zu produzieren. Als offizielle Verwendungszwecke wurden das sonntägliche Abendmahl in der Kirche sowie medizinische Anwendungen definiert. Allerdings war damals der Weinkonsum unter den Siedlern in Santa Clara durchaus verbreitet, ohne dass sie dies als „Sünde“ angesehen hätte. 1880 wurde jedoch der Verzicht auf Genussmittel für Mitglieder der Glaubensgemeinschaft als verbindlich erklärt und nach 1890 der Wein auch im Abendmahl durch Wasser ersetzt. Damit dürfte das Ende des Weinbaus in Santa Clara besiegelt gewesen sein.
Der Auswanderer Johannes Graf kam 1883 tragischerweise ausgerechnet bei einem Unfall mit einem Weintransport ums Leben. Näheres wir erfahren aus der auf Familysearch publizierten Schilderung von Natalie H. Boucher in ihren Erinnerungen zu John und Anna Magdalena Graf:
„John Graf starb, als er schwer verletzt wurde, als sein Wagen beim Überqueren des Black Ridge in St. George umkippte und ihn unter sich einklemmte. Er war dabei, ein Fünfzig-Gallonen-Fass mit Wein nach Silver Reeft [zu bringen], um ihn am vierten Juli mit seinen Freunden zu teilen. Er stiess mit einem anderen Wagen zusammen, und als er ausweichen wollte, prallte sein Wagen gegen einen Felsbrocken. Er starb 19 Tage später an seinen Verletzungen. Er war 57 Jahre alt.»
Nachfahren besuchen die Heimat ihrer Urahnen
Das Ehepaar Michael und Elizabeth Graff-Harger sowie alle ihre acht Kinder sind Utah und der LDS-Church (The Church of Jesus Christ of Latter-day Saints), wie die Mormonen sich offiziell bezeichnen, bis heute treu geblieben, auch wenn die Eltern heute Nicht mehr in der Pioniersiedlung Santa Clara, sondern in der Nähe von Salt Lake City leben, wo der inzwischen im Pensionsalter sich befindliche Michael Graff als Finanzberater tätig war.
Der Hauptgrund für den Schweiz-Besuch des Ehepaars Graff mit sechs ihrer acht Kinder und deren Partnern und Partnerinnen liegt denn auch in der Herkunft der Graff-Vorfahren. Auf Empfehlung des Staatsarchivs St. Gallen gelangte Michael Graff mit der Anfrage an mich, ob ich bereit wäre, für seine Familie eine Präsentation zur Auswanderungsthematik zu halten: „Wir hätten gerne mehr Informationen darüber, wie das Leben unserer Vorfahren war, damit wir es verstehen.“ .“ – „Wir möchten mehr Informationen über das Leben unseres Vorfahrens, damit wir sie besser verstehen können“ , so die Begründung seinesgleichen
Von Zürich aus ging die Reise der Grossfamilie aus Utah schon am folgenden Tag weiter ins St. Galler Rheintal, wo erwartungsgemäss ein Besuch von Rebstein auf dem Programm stand. Für den Endsiebziger Michael Graff (Jg. 1945) ist dies – im Unterschied vielleicht zu einigen seiner Kinder – keine Premiere: Wie jeder Mormone musste sich seine Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft in jungen Jahren durch Missionstätigkeit im Ausland für die Dauer von zwei Jahren «abverdienen». Diese führten ihn 1965–1967 in die Westschweiz nach Lausanne und Yverdon, von wo aus er erstmals die Heimat seiner Urahnen in der Ostschweiz erkundete. Bereits sein Großvater Theodore Harmon Graf hatte seinen zweijährigen Missionsdienst in der Schweiz absolviert.